Shermin Langhoff übernimmt Maxim Gorki Theater in Berlin - DER SPIEGEL

2022-10-17 08:14:36 By : Mr. Kent Wong

Führungswechsel am Gorki-Theater: Die ersten Tage von Shermin Langhoff

Radenkovic, Lohse, Sahintürk: Klingt nach europäischem Spitzen-Fußballklub, jubelte die Berliner Presse, als die Namen der neuen Ensemblemitglieder des Maxim Gorki Theaters bekannt wurden. Tatsächlich funktioniert die interkulturelle Besetzungspolitik im Sport ja wesentlich besser als in hiesigen Schauspielensembles, wo fremdländische Namen bis heute selten sind. Und auf der Leitungsebene sieht es noch dünner aus. An Berlins kleinster Staatsbühne ist das seit ein paar Tagen anders. Dort hat mit Shermin Langhoff, die vor 44 Jahren als Shermin Özel in Bursa geboren wurde, soeben die allererste Chefin eines deutschen Stadttheaters mit türkischen Wurzeln ihren Job angetreten.

Langhoffs Einstand an der neuen Wirkungsstätte: ein von 30 verschiedenen Künstlern bespielter Ausstellungs- und Performance-Parcours, der sich aus allen erdenklichen Perspektiven mit dem historisch aufgeladenen Theater-Areal auseinandersetzt. An der 13. Station - konzipiert von Hans-Werner Kroesinger - treffen jeweils ein neuer Gorki-Akteur und ein Zuschauer zum Vier-Augen-Gespräch aufeinander.

Der 34-jährige Aleksandar Radenkovic fingert zwei Walnüsse aus der Hosentasche, die vom familieneigenen Baum in Novi Sad stammen, und ist sofort mittendrin in seiner serbischen Vorgeschichte. Radenkovics Kollegin Sema Poyraz - 1950 in der Türkei geboren und elf Jahre später nach Deutschland emigriert - serviert genau jenen Mokka, den sie als Siebenjährige von ihrer Großmutter in liebevoller Kombination mit einer Zigarette kredenzt bekam. Drei Minuten später ist sie bei der Fluchtgeschichte ihres Großvaters, deren Spektakularitätsgrad es locker mit einem Shakespeare-Drama aufnehmen kann.

So werden intelligente Bögen zwischen Familien- und Weltgeschichte geschlagen und kitschfrei Fragen nach Identität und Zuschreibungen gestellt. Zumal man in dem Briefumschlag, der einem zum Schluss in die Hand gedrückt wird, eine Anregung zum Weiterdenken findet: "Wo warst Du vor 70 Jahren?"

70 Jahre! Shermin Langhoff hat für ihren Karriereweg gerade mal ein Siebtel dieser Zeit gebraucht. Damit steht die Intendantin, die ursprünglich aus der Filmbranche kommt, unter Rekordverdacht. Langhoff wuchs bei ihren Großeltern in der Türkei auf, bevor sie im Alter von neun Jahren ihrer Mutter, einer Gastarbeiterin bei AEG, nach Deutschland folgte. 2003 kuratierte sie im Berliner Theater Hebbel am Ufer erstmals das deutsch-türkische Festival "Beyond Belonging" und übernahm fünf Jahre später mit einem 100.000-Euro-Budget die kleine Kreuzberger Off-Spielstätte Ballhaus Naunynstraße.

Dort hatte sie mit Nurkan Erpulats Inszenierung "Verrücktes Blut" bald einen Kult-Hit im Programm, der offensiv mit deutsch-türkischen Klischees spielte und zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde.

Und jetzt also: Staatsbühne.

"Ich konnte zwar in meinen zehn Off-Theaterjahren sehr viele Erfahrungen sammeln", kommentiert Shermin Langhoff den gewaltigen Sprung von der Naunynstraße ans Gorki. Aber in Berlin eines der fünf maßgeblichen Häuser zu übernehmen, sei schon noch mal ein anderes Kaliber. "Da stellte sich ganz klar die Frage: Was brauche ich an zusätzlicher Kompetenz?"

Die zweite Instanz an Langhoffs Seite heißt Jens Hillje und hat schon einmal (Berliner) Theatergeschichte geschrieben, als er 1996 mit dem heutigen Schaubühnen-Intendanten Thomas Ostermeier die radikal zeitgenössische "Baracke" mit ihrem Superhit "Shoppen und Ficken" von Mark Ravenhill aus der Taufe hob.

"Das Publikum ist noch woanders"

Langhoff und ihr leitender Dramaturg und Ko-Intendant Hillje verstehen sich ausdrücklich als Doppelspitze. Bisher sei das Medieninteresse ja eher in Richtung 'Frau und Türkin' gegangen, witzelt die Intendantin und ergänzt: "Vielleicht haben wir ja demnächst noch tollere Artikel: die erste Türkin und der erste Schwule im Pack." Gutes Stichwort: Nerven diese ständigen Etikettierungen von außen nicht wahnsinnig? "Ich habe überhaupt kein Problem damit, gelabelt zu werden", erklärt Langhoff. "Im Gegenteil: Schließlich habe ich das ja selbst hoch zwei betrieben." Mit dem dezidiert "postmigrantischen Theater", das sie am Ballhaus Naunynstraße ausrief, schuf Langhoff tatsächlich eine weit über die Berliner Grenzen hinaus erfolgreiche Marke. "Ich habe mich selbst gelabelt", ergänzt die Intendantin. "Denn wenn schon Zuschreibung stattfindet, dann möchte ich sie wenigstens selbst in der Hand haben."

Dieses Selbstlabeling ist freilich nicht der einzige mögliche Ansatz, um das deutsche Stadttheater auf lange Sicht "farbenblind" zu machen. Dieses lohnende Ziel wäre erreicht, wenn türkische oder afrikanische Darsteller mit ebensolcher Selbstverständlichkeit als "Hamlet" besetzt werden wie biodeutsche, ohne dass das Publikum es als besondere Inszenierungsidee auffasst. Es gibt da im Betrieb durchaus ermutigende Einzelbeispiele: Unter Langhoffs Vorgänger am Gorki, Armin Petras, spielte etwa der dunkelhäutige Schauspieler Michael Klammer wunderbar kommentarfrei sämtliche Dramenhelden von Kleists Achill bis zu Schillers Karl Moor.

Natürlich, steigt Jens Hillje in diese theaterinterne Diskussion ein, könne man besetzungstechnisch "einfach so tun, als gäbe es diese Differenzen nicht". Aber: "Das Publikum ist noch woanders", glaubt er. "In 10, 20 Jahren werden wir da sicher viel weiter sein, aber im Moment schreiben die Zuschauer Herkünfte und Identitäten noch deutlich zu." Am Gorki wird es beide Herangehensweisen geben - die "farbenblinde" genauso wie diejenige, die diese Zuschreibungen direkt thematisiert und mit ihnen spielt. Das Ideal wäre, fasst Shermin Langhoff zusammen, "dass wir selbstverständlich mit unseren verschiedenen Biografien, Herkünften und Standpunkten umgehen dürfen, aber nicht müssen."

In diesem Sinne geht es jetzt am Gorki auch nicht mehr ausschließlich um ein "postmigrantisches Theater", sondern um eine generelle "Öffnung hin zu einer Stadtgesellschaft, die wir diverser wahrnehmen als sie bisher auf den Bühnen verhandelt wird", so Langhoff. Ausreichend zu tun gibt es bei so einem Vorhaben auf Jahrzehnte. Schließlich lässt sich die Perspektive, aus der Dinge normalerweise verhandelt werden - an den meisten Bühnen wie im Großteil der Gesellschaft überhaupt - mit dem Theatermacher René Pollesch lakonisch auf vier Vokabeln reduzieren: "weiß, männlich, heterosexuell, Mittelschicht".

Sie freue sich, sagte die Publizistin Carolin Emcke in ihrer klugen Rede zum Eröffnungsfestakt der neuen Gorki-Intendanz, dass die Menschen "vom Rand, die etwas anders glauben und etwas anders lieben, jetzt in der Mitte angekommen" seien. Und wandte sich gleichzeitig mit dem Wunsch an das neue Zentrum, "den Diskurs von Identität und Differenz" aufzubrechen und stattdessen "über Ähnlichkeit zu sprechen".

Wie seinerzeit schon Langhoffs Vorgänger Armin Petras, der im Sommer als Intendant nach Stuttgart wechselte, ist zur künstlerischen Erfüllung auch der jetzigen Leitung bereits im Vorfeld Wesentliches gelungen. Trotz der chronischen Unterfinanzierung von Berlins kleinstem Staatstheater konnte die neue Doppelspitze erstklassige Regisseure wie Sebastian Nübling, Yael Ronen, Falk Richter oder Sebastian Baumgarten gewinnen, die normalerweise auch gagentechnisch in der Champions League spielen.

In der eigentlichen Eröffnungspremiere - einer Tschechow-Inszenierung des neuen Hausregisseurs Nurkan Erpulat - wird aber erst einmal Taner Sahintürk als Sozialaufsteiger Lopachin symbolträchtig den "Kirschgarten" der weltfremd-selbstgewissen Gutsbesitzerin Ranjewskaja abholzen. Die wird vom dienstältesten Gorki-Ensemblemitglied Ruth Reinecke gespielt.

Übrigens war Sahintürk vor seiner Schauspielkarriere - von wegen Fußballmannschaft - tatsächlich auf dem Sprung zum Bundesligaprofi. Insofern ist es Ehrensache, dass sich das neue Gorki in der brancheneigenen Liga mindestens so weit nach vorn spielen muss wie Sahintürks Verein Schalke 04.

Shermin Langhoff und ihr Co-Intendant Jens Hillje (links) sowie Geschäftsführer Jürgen Maier bilden die neue Leitung des Maxim Gorki Theaters in Berlin.

Langhoff war zuvor am Ballhaus Naunynstraße, das sie mit ihrem "postmigrantischen Theater" weit über die Stadtgrenzen hinaus bekanntmachte. Für ihre Arbeit wurde sie u.a. mit dem Kairos-Preis ausgezeichnet.

Trotz ihrer herausgehobenen Stellung als erste türkischstämmige Intendantin an einem deutschen Stadttheater versteht sich Langhoff ausdrücklich als Teamplayerin - so betont sie, dass sie das Gorki-Theater gleichberechtigit mit Jens Hillje leitet.

Den Auftakt in die Theatersaison am Gorki bildet aber der sogenannte Herbstsalon, ein von 30 verschiedenen Künstlern bespielter Ausstellungs- und Performance-Parcours, der sich aus allen erdenklichen Perspektiven mit dem historisch aufgeladenen Theater-Areal auseinandersetzt.

Noch bis zum 17.11. ist der kostenlose Parcours, den Langhoff zusammen mit Cagla Ilk, Erden Kosova und Antje Weitzel organisiert hat, geöffnet.

Zu den vertretenen Künstlerinnen gehört die gebürtige Nigerianierin Otobong Nkanga, die als DAAD-Stipendiatin zurzeit in Berlin ansässig ist und hier ihre Performance "Glimmer" präsentiert.

Der rumänische Künstler Dan Perjovschi zeigt eine unbetitelte Arbeit auf Fenster- und Spiegelglas zum Themenkomplex NSA und digitale Überwachung.

Langhoff, die hier neben dem Kunstwerk "Sleepy Hollows" der Gruppe Bankleer posiert, gibt damit einen vielversprechenden Vorgeschmack, was vom Gorki-Theater unter ihrer Leitung noch kommen könnte.

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