Glas Kaiser macht Schluss

2022-01-25 10:41:55 By : Mr. Eric Yin

Gerhard Kaiser sitzt vor der Silhouette von Paris und erzählt vom 30-jährigen Krieg. So weit reicht das Familiengedächtnis zurück. Die Geschichte der Firma Glas Kaiser ist viel jünger, aber auch ein prägendes Kapitel Familiengeschichte. Doch das endet 2022.

Lüdenscheid - Überhaupt: die Familie. Um die kreist viel, eigentlich alles. Weit verzweigt ist sie, geprägt hat sie das Leben vieler. „Mein Vater hatte 90 Vettern und Cousinen“, sagt er und lacht. Unzählige Verflechtungen, interessante Lebenswege. Einiges davon wurde akribisch festgehalten. Vater Rudolf hat, wie schon sein Vater Ernst zuvor, Erinnerungen aufgeschrieben, um so „ein wenig über meine Gastrolle auf dieser Erde im privaten und geschäftlichen Leben nachzudenken“. Deshalb liegen die Familiendokumente mit Zeitungsausschnitten, Fotos und alten Werbeprospekten auf einem gemeinsamen Stapel. Es lässt sich nicht trennen, Familien- und Unternehmensgeschichte.

Schon ist man mittendrin in nunmehr 115 Jahren Glas Kaiser. Den Firmengeburtstag könnte man feiern im kommenden Jahr, wird man aber nicht. „Im März ist Schluss“, hat der Chef beschlossen. Niemand in der Familie zeigt mehr Interesse an der Arbeit mit Glas. Das Know-how wandert ab; Maschinen sind verkauft, so sie denn überhaupt noch Interessenten finden. Das tut weh. Gerhard Kaiser zuckt mit den Achseln, das Bedauern darüber ist ihm anzusehen. Aber was soll’s, so ist der Lauf der Welt: „Ich bin jetzt 78“, sagt er. Zeit, aufzuhören.

Dabei hätte er viel zu tun und noch mehr Ideen. Großaufträge hat er abgelehnt. Anfragen aus den USA gibt’s für die Produktion von gläsernen Krippenrückwänden. Glas wird für beleuchtete Haustürschilder gebraucht, für Hotelausstattungen, für wärmedämmende Fenster, für die Autoindustrie. Der Werkstoff hat Zukunft. Lässt sich bedrucken, färben, in beliebige Form und Funktion schleifen, widerstandsfähig machen. Duschwände, Küchenrückwände, das Geschäft läuft. „Auf der einen Seite tut’s mir leid,“ räumt er ein, „aber irgendwann reicht’s auch.“ Das Kapitel wird geschlossen. Zeit für ein neues: „Wir lieben das Radfahren an den Flüssen entlang.“

Eher zufällig wurde der Handel mit Masse und Klasse sein Metier. Geplant war das nicht. Geplant war ein Leben für die Theologie, ebenfalls bewährte Tradition in der Familie. Mit dem Magisterexamen in der Tasche war der junge Gerhard gerade frisch Pastor in Wesel, als in Lüdenscheid ein Nachfolger für den Spezialbetrieb fehlte. Nun fehlt wieder ein Nachfolger. Seine drei Kinder haben andere Wege eingeschlagen.

Carl Kaiser, der Bruder seines Großvaters Ernst, hatte Anfang des 20. Jahrhunderts eine Großhandlung für Glas, Farben und Lacke an der Börsenstraße in Lüdenscheid übernommen. Er baute dort, weiß die Familienchronik, ein Lager samt Wohnhaus, war musikalisch, spielte im Posaunenchor – und starb bereits 1917. Ernst Kaiser, damals für die große Lüdenscheider Firma Gebr. Noelle tätig, füllte die Lücke, die sein Bruder hinterließ. Ihm sei, so hielt sein Sohn Rudolf später fest, die Umstellung vom Großbetrieb auf einen kleinen, handwerksbezogenen Handel nicht leicht gefallen. Aber es gelang. Ernst führte den Betrieb durch Kriegs- und Nachkriegszeiten, schuf ein solides Fundament und Voraussetzungen für weiteres Wachstum. Er kaufte Flächen an der Wefelshohler Straße und verlegte, nach 50 Jahren, den Standort von der Innenstadt an den Rand. Krieg und Kriegsfolgen hinterließen ihre Spuren, der Neuanfang war schwer, aber der Wiederaufbau brauchte Material. Und Platz. Das machte die Arbeit rationeller. Einfacher. In gewisser Hinsicht leichter.

Denn der Handel mit Glas war schon immer eine schwere Arbeit gewesen. „Wenn eine Ladung Fensterglas am Bahnhof ankam, dann waren wir einen Tag damit beschäftigt, die 200kg-Kisten ins Lager Börsenstraße zu bringen“, steht in Rudolf Kaisers Erinnerungen an die Zeit Ende der 20er-Jahre. Transport und Einlagerung seien „kriminell“ gewesen, schreibt er – und meinte damit das Agieren in der Enge der Stadt, die körperliche Anstrengung, die mitunter lebensgefährliche Arbeit des Auspackens und Verstauens. Denn: „Gabelstapler und Krananlagen gab es bei uns nicht.“ Rudolf trat als Lehrling in die Firma des Vaters ein, lernte weiter am Niederrhein, besuchte die Ingenieurschule und kehrte 1929 in den Alltag zurück: „Wir hatten damals noch keine Glasschleiferei. Die Bestellungen auf geschliffenes Glas wurden wie folgt erledigt: Geschnitten wurde das Glas bei uns (mehr schlecht als recht). Dann fuhr einer mit der Eisenbahn nach Hagen, anschließend mit der Straßenbahn nach Altenhagen in die Schleiferei, schwer bepackt mit Glasplatten. Nach Fertigstellung den gleichen Weg zurück (eine Quälerei).“ Das besserte sich erst, als die Firma in eigene Flachschleifmaschinen investierte.

1952 traten Rudolf und Karl Friedrich Kaiser dann als weitere Teilhaber in die Firma ein. Aus- und Anbauten folgten, das Geschäft erschloss neue Zweige. 1971 kam mit Rudolfs Sohn Gerhard die nächste Generation in den Familienbetrieb; wieder galt es, eine Lücke zu füllen. In jenen Jahren begann Glas Kaiser mit dem Schleifen von Bilderglas im großen Stil. Aldi, Metro und Ikea zählten zu den Kunden, auch Gewächshausproduzenten in England. „1975 haben wir noch eine neue Halle gebaut und mit 100 Leuten Glas geschliffen“, erinnert er sich. 40 Millionen Bilderglasscheiben gingen pro Jahr von Lüdenscheid aus in die Welt. Tonne um Tonne, Tag für Tag. „Wahnsinn, was wir da an Glas verarbeitet haben.“

Als der langjährige Flachglas-Lieferant aus Witten den Laden schloss, machte sich Gerhard Kaiser auf die Suche nach neuen Lieferanten – und wurde in Rumänien fündig. Um den riesigen Bedarf zu decken, ließen sich die Lüdenscheider auf Kompensationsgeschäfte ein, kauften für Millionen Kakao in Hamburg und tauschten ihn ein für Glas. „Eine hochinteressante Zeit“, nennt Kaiser die 80er-Jahre im Rückblick. Bilder von Besuchen des rumänischen Botschafters, später von Hilfsaktionen, als die Lage vor Ort eskalierte, zeugen von diesen ereignisreichen Jahren des Umbruchs.

Denn mit dem Fall der Mauer brach diese lukrative Zusammenarbeit zusammen. „Die bekamen keine Energie mehr, und Glas besteht zu 80 Prozent aus Energie“, erzählt Gerhard Kaiser. Die Russen wollten, aber konnten das nicht kompensieren, „und da musste ich ganz klein wieder anfangen“. Der Neuanfang aus der Insolvenz heraus gelang. Zum 100. Firmengeburtstag 2007 hatte man am neuen Firmensitz an der Bräuckenstraße längst wieder alle Hände voll zu tun. Aber es waren viel weniger Hände.

Zu siebt sind sie nur noch. Mit der Schließung der Firma habe er so lange gewartet, „bis die meisten Mitarbeiter in Rente gehen“. Wer noch nicht soweit ist, habe einen neuen Job gefunden, sagt der Chef: „Deshalb ist der Zeitpunkt günstig.“ Vielleicht ist der Zeitpunkt sogar günstig, die eigenen Erinnerungen aufzuschreiben: Familiengeschichte als Spiegel der Stadt- und Zeitgeschichte.