John-Cranko-Schule in Stuttgart: Platz für große Sprünge

2022-01-25 10:54:21 By : Mr. Tongqing Wang

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6. Januar 2022 · Seit 1971 werden in der Stuttgarter John-Cranko-Schule Ballettschüler ausgebildet. Nun ist die Schule in ihr neues Domizil umgezogen – in der Architektur und Tanz neu verbunden werden.

Morgens gegen halb elf fangen sie an zu fliegen. Im Ballettsaal Birgit Keil heben die Jungs der Ausbildungsklasse A ab. Alle gleich weiß-grau gekleidet. Große Sprünge, quer durch den Raum, höher, weiter. Die Decke werden sie niemals erreichen, die Spiegelwand, mehr als drei Meter hoch, macht vielleicht die Hälfte der Saalhöhe aus. Das sind Dimensionen, von denen andere Ballettschulen nur träumen können. Im 50. Jahr ihres Bestehens erobert sich die Stuttgarter John-Cranko-Schule ihr neues Domizil. „Es war so befreiend, endlich so viel Platz zu haben, eine Übung zu machen von einer Ecke zur anderen, und dann hast du immer noch mehr Platz“, sagt Carlos Strasser. „Ich habe mich künstlerisch verbessert. Dadurch, dass wir so viel Raum haben, kann man viel mehr tun, und nach dem Training ist auch mal ein Saal frei, so dass man auch für sich etwas probieren kann.“

Der Achtzehnjährige hat schon einige Jahre in der früheren John-Cranko-Schule trainiert. Jetzt weiß er zu schätzen, was sich geändert hat. Zum ersten Mal seit der Gründung durch den legendären Choreographen und Ballettdirektor John Cranko (1927-1973) hat die Schule das, was ihr immer gefehlt hat: Platz. In der einstigen Druckerei, in der sie ansässig war, betrug die Deckenhöhe höchstens 2,50 Meter. Ein Witz für Bühnentänzer. Die Architekten Stefan Burger und Birgit Rudacs aus München haben das Maximum herausgeholt aus der steilen Hanglage am Urbansplatz – ästhetisch wie funktional. In solchen Räumen zu tanzen verleiht Flügel. Nichts bremst den Schwung, nicht in der Horizontalen, nicht in der Vertikalen. Und Lüften sei jetzt auch kein Problem mehr, sagt Schuldirektor Tadeusz Matacz. In der ehemaligen Druckerei des Schwabenverlags war das Öffnen der Fenster jahrelang ein Problem, die Räume waren seit Jahrzehnten zu klein.

Vom Weltruhm des Stuttgarter Balletts war an der ersten staatlichen Ballettschule der Bundesrepublik, gegründet 1971, wenig zu spüren. Für das durch die Automobilindustrie reich gewordene und dennoch knauserig, manchmal verklemmt gebliebene Stuttgart waren die künstlerischen Leistungen des Balletts seit Crankos Zeiten ein hübsches Aushängeschild, gern benutzt in der Stadtwerbung. Doch bis zum Neubau der Ballettschule dauerte es fast drei Jahrzehnte. 2002 begann man, konkreter zu planen, 2009 war man immer noch auf der Suche nach Grundstücken. Im Stuttgarter Rathaus hing man anfänglich der Vorstellung an, eine solche Schule lasse sich als Immobilien-Investorenobjekt bauen, mit viel Geld von Investoren und wenig vom Staat. Es waren dann der frühere Ballettintendant Reid Anderson und der ehemalige grüne Oberbürgermeister Fritz Kuhn, die dieses in Deutschland einzigartige Projekt durchsetzten. Anderson sagte im Rückblick sogar, er habe „wie ein wildes Tier“ für die Schule gekämpft. Die Grünen schafften es, als die Situation für den Schulneubau über dem Wagenburgtunnel gerade wieder einmal kritisch war, Porsche für eine Spende in Höhe von zehn Millionen Euro zu gewinnen.

Nachdem erste Pläne gescheitert waren, die Schule in einem Arbeiterviertel im Osten der Stadt zu bauen, fand die Stadt ein Grundstück zwischen Urbansplatz und Werastraße, in klassischer Stuttgarter Hanglage nahe der Staatsgalerie, der Musikhochschule und der württembergischen Staatstheater – zum Glück. Alle Standortfaktoren waren erfüllt: Nähe zum Theater, Blick in den Talkessel, mitten in der Stadt. Aus einigen Übungsräumen schauen die Eleven heute tatsächlich in den Schlossgarten. Die Compagnie ist im selben Gebäude untergebracht, sie nutzt die unteren vier Geschosse und hat im Untergeschoss eine Probebühne, die exakt die Maße der Opernbühne abbildet. Eins zu eins probieren zu können ist ein Luxus, den nur wenige Compagnien haben.

Wie muss eine Ballettschule aussehen? Der „Monolith aus gegossenem Material“, wie es bei der Vorstellung des Siegerentwurfs im Architektenwettbewerb hieß, bietet gute Voraussetzungen. Sichtbeton und eine symmetrische Struktur dienen der Konzentration auf die Kunst. Die Arbeitsbedingungen sollten optimal sein. „Als mich die Architekten fragten, welche Temperatur wir brauchen, zögerte ich etwas, es gab ja keine Vorschriften. Also schätzte ich die ideale Temperatur und sagte 22 Grad“, erinnert sich Matacz, seit 1999 Direktor der Cranko-Schule. Angenehm ist das Klima innen jedenfalls geworden, und bei allen Sparrunden verhinderte der Direktor, dass die Schule kleiner wurde.

Für Matacz war der Neubau die vielleicht größte Herausforderung seines Berufslebens. Er maß sich an den Schulen von Paris, London und Toronto. So anspruchsvoll wie die Ausbildung sollte auch der Neubau der Schule sein. Beton, Glas, Stahl, Naturfarben sind das eine, mit klaren Linien, großen, aber geschützten Fensterfronten. Der Direktor berechnete, wie viel Raum überhaupt gebraucht wird, in welcher Qualität. In den Gängen gibt es jenseits der Laufflächen nun einen Bodenbelag, der angenehm ist wie ein Tanzboden, weil Tänzer keine Sitzgruppen brauchen, sondern einen warmen Fußboden, um sich zwischen Trainings und Proben auszuruhen. Ein Tanzpädagoge hatte die Architekten beraten – und persönlich auf Knien ausprobiert, wie sich der Boden anfühlt.

Nach dem 2005 eröffneten Kunstmuseum am Kleinen Schlossplatz ist die Cranko-Schule der wichtigste neue Kulturbau in Stuttgart, einer Stadt, der bis heute eine funktionierende Kulturmeile und eine Philharmonie fehlen. Der in Warschau ausgebildete Matacz erkannte sofort die einmalige Chance: Es ging nicht darum, wie sonst häufig, ein paar Fabriketagen für eine Ballettschule herzurichten, sondern darum, etwas Neues zu schaffen: „Man wollte uns in der Mitte der Stadt. Das war ja ein großer Vorteil hier in Stuttgart. In Moskau fahren Sie eine halbe Stunde mit der Metro in einen Außenbezirk, in Paris ist es ähnlich. Bei uns gehen die Schüler zu Fuß ins Staatstheater.“ Im September 2020 konnte Matacz das neue Gebäude eröffnen, fast ohne Gäste im zweiten Lockdown. Immerhin: Die Abschlussklassen konnten trotzdem weiter trainieren, denn 2020 hat die Schule den Status eines Landesleistungszentrums bekommen. Das hat vieles vereinfacht.

Acht Ballettsäle mit großen Spiegelwänden, schönen, wenngleich etwas kantigen Stangen und wehenden weißen Vorhängen sind benannt nach den Stars aus der goldenen Ära des Stuttgarter Balletts: Marcia Haydée, Egon Madsen, Birgit Keil. Einer heißt nach der Ballettmeisterin Georgette Tsinguirides, Jahrgang 1928, die alle Ballette Crankos aufgezeichnet hat, so dass sie weiter in aller Welt getanzt werden können: „Romeo und Julia“, „Onegin“, „Der Widerspenstigen Zähmung“. Das „Stuttgarter Ballettwunder“, das 1961 mit der Berufung John Crankos begann, ist gerade 60 Jahre alt geworden. Zehn Jahre nach seiner Ankunft gründete Cranko die Schule. Für die Compagnie und die Schule geht es darum, den Spruch einzulösen, Tradition sei nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers. Der Schulneubau gibt der Ballettausbildung auch baulich die Bedeutung, die sie seit Jahrzehnten verdient hat.

Bei der Ausschreibung des Wettbewerbs hatten Stadt und Land den Bau 2011 zunächst mit 25 Millionen Euro veranschlagt. Nach der Entscheidung für den Entwurf des Büros Burger Rudacs plante man mit 46,9 Millionen Euro. Dann kam eines zum anderen: Verunreinigter Baugrund musste abgetragen werden, Kostensteigerungen schlugen mit noch einmal 7,5 Millionen Euro zu Buche. 60 Millionen Euro sind es jetzt geworden, hinzu kommen noch sieben Millionen Euro für die Erstausstattung, finanziert aus Geldern des Staatstheaters sowie mit Spendengeldern des Freundeskreises der Schule. Der Bau ist für Stuttgart ein wichtiger Schritt in eine städtebaulich bessere Zukunft. Davon wird man mehr spüren, wenn die von den Terrassen der Cranko-Schule gut einsehbaren Baugruben am Hauptbahnhof in spätestens vier Jahren endlich geschlossen sind und über Teile des neuen Bahnhofsdachs Gras wächst. Jetzt richten am Nachmittag an der Treppe zum Eingang, der in betoniertem Understatement gehalten ist, abgehetzte Mütter ihren kleinen Mädchen die letzten Strähnen am Dutt: Die „Babys“, wie Matacz sie nennt, Grundschulkinder von sieben Jahren an, sind die Jüngsten der Schule, sie kommen nur am Nachmittag, von einmal bis sechsmal, mit steigendem Alter und größeren Anforderungen. Die Berufsschüler, die Abschlussklassen A und B, sind dann von morgens bis abends in der Ausbildung, ergänzt von Unterricht in Deutsch, Englisch, Sozialkunde, Tanzgeschichte, Musikgeschichte und -theorie, Anatomie und Tanztheorie und sogar Schminken. In einem der Unterrichtsräume werden jetzt erst mal die Corona-Schnelltests abgenommen.

Fast ein wenig zaghaft sehen die Tutus auf dem Boden vor dem Tanzsaal aus. Ein ausgedruckter Zettel erinnert daran, dass mit Charaktertanzschuhen, den Spängchenpumps, mit denen man so richtig schön auftreten kann bei Polka oder Flamenco, auf gar keinen Fall einfach so herumgelaufen werden darf. Das Gebäude soll nicht nur lange schön sein – es soll auch repräsentativ bleiben. „Wir waren es gar nicht gewohnt, so viel Platz zu haben“, sagt Katharina Buck. Sie hat lange in der alten Schule trainiert. Der Geruch, die Töne, die Aura der alten Schule und der alten und neuen Stars, die sie hervorgebracht hat, haben auch ihren Alltag geprägt. Jetzt ist Katharina 17 und im vorletzten Ausbildungsjahr. Mit fünf fing sie an zu tanzen, mit sieben kam sie an die Cranko-Schule. „Da war schon klar, dass Tanz mein Beruf ist“, sagt sie. Sie hat es durchgezogen, immer unterstützt von den Eltern. Wie so viele Cranko-Kinder aus Stuttgart und Umgebung hat sie das Stuttgarter Ballett oft auf der Bühne gesehen. Mittlerweile hat sie sich dazu entschlossen, das Gymnasium zu verlassen und sich ganz auf die tänzerische Ausbildung zu konzentrieren. Katia Battaggia, ein Jahr älter und im letzten Jahr der Ausbildung, hat diese Entscheidung früher getroffen: Sie ist mit knapp 15 in ihrer Heimat Italien von Matacz eingeladen worden, eine Woche lang Probeunterricht in Stuttgart zu nehmen. Solche Gastaufenthalte sind heute der gängige Weg, Talente auszusuchen. Das klassische Vortanzen gibt es für die Älteren gar nicht mehr. Sie bewerben sich mit Videos oder werden gesehen und zu Probetrainings eingeladen. Nur die Allerjüngsten tanzen noch vor, in der Ballettschule, die auch Katharina und Carlos durchlaufen haben.

Wenn sie jünger als 13 oder 14 Jahre sind, habe es keinen Sinn, Kinder ins Internat aufzunehmen, das Heimweh sei da noch ein zu großes Thema, sagt Matacz. Und es gibt mehr Quereinsteiger, die erst spät, vor der Berufsausbildung, an die Schule kommen. Je nachdem, wie viele der eigenen „Babys“ durchhalten und groß werden, gibt es Plätze für die Neuzugänge von außen, wie Katia Battaggia. 28 Nationen sind zur Zeit in der CrankoSchule versammelt. Sie vermisse ihre Familie natürlich, erst recht nach dem Coronajahr, in dem sie lange zu Hause in Italien war und nur online trainieren konnte, sagt Katia. „Aber ich bin es gewohnt.“ Jetzt genießt sie das Einzelzimmer im neuen Internat im zehnten Stock, das ihr Corona beschert hat. Eigentlich sind dort Doppelzimmer eingerichtet, ganz in Weiß, platzsparend und klassisch modern möbliert, mit hübschen Gemeinschaftsräumen samt Küche. Wegen Corona gibt es mehr Platz. Auf die Maximalbelegung muss das Internat nun verzichten.

Im Sommer durften die ersten Jugendlichen auf der neuen Probebühne ihre Prüfungen ablegen, Vorstellungen kann es für bis zu 192 Personen geben. Räume für Unterricht und Physiotherapie, ein Fitnessstudio samt Kletterwand, die der Direktor besonders toll findet, weil sie die Tiefenmuskulatur trainiert, eine Mensa mit offener Küche und Terrasse, alles schlicht elegant: So schön wird nirgendwo sonst getanzt, so geschützt durch einen Glas- und Betonkokon, mit Gratisblick auf Stuttgart.

Im Saal Marcia Haydée trainieren in blauen Trikots an diesem Morgen die Mädchen, die eigentlich in diesem Jahr ihren Abschluss gemacht hätten. Weil der Lockdown ihnen monatelang das Training erschwert hat, haben sich 14 entschieden, das Jahr zu wiederholen. Schließlich muss man sich vorbereiten auf ein Berufsfeld, das harte Konkurrenz, Disziplin, Hingabe und körperliche Hochleistung bedeutet – und eine Umorientierung in der Karriere, wenn andere erst richtig ankommen. „Mein Job ist es nicht, arbeitslose Tänzer auszubilden“, sagt Matacz nüchtern. Bei den Schülern erkennt er „die Portion Demut, ohne die Höchstleistung nicht möglich ist“. Alle sind hochbegabte Individuen, deren Seele mit den technischen Standards Schritt halten muss, die heute viel höher sind als früher.

Weshalb es in dieser kleinen Kaderschmiede eben auch darum geht, Lernzyklen zu wiederholen, Gastengagements im Stuttgarter Ballett einzubauen. Oder, wie im Fall von Carlos, zu ermöglichen, dass er das Abitur, samt Musik-Leistungskurs und notfalls Klavierüben an den Flügeln im Ballettsaal, ebenso gut meistert wie seine Tanzausbildung. Anders als andere Ausbildungsstätten kann Matacz seinen Schülern kein Abendgymnasium oder eine maßgeschneiderte Beschulung anbieten. Wer hier beides will, Abitur und Berufstanz, muss die normale Schule besuchen.

Aber wer sich für diese Doppelbelastung entscheide, sagt der Direktor zufrieden, liege mit den Leistungen meist „ganz vorn“. Carlos‘ frühere Kameraden trainieren als angehende Profis vom frühen Vormittag an, da besucht er ein ganz normales Gymnasium. In einem Loop, das zweite Jahr in Wiederholung, trainiert er nachmittags mit den Ältesten der Oberstufe aus der Ballettschule, die deutlich jünger sind als er. Das birgt auch Frust. Carlos überwindet ihn durch das Wissen, dass im Frühjahr, wenn er das Abitur hat, seine Kreativität regelrecht explodieren kann. Die Lust aufs Tanzen jedenfalls ist durch den neuen Ort größer als je zuvor. Und für zusätzliches Training sorgt eine Hausregel: Aufzüge dürfen nur Erwachsene benutzen.

Quelle: F.A.Z. Magazin

John-Cranko-Schule in Stuttgart: Platz für große Sprünge

Platz für große Sprünge

Seit 1971 werden in der Stuttgarter John-Cranko-Schule Ballettschüler ausgebildet. Nun ist die Schule in ihr neues Domizil umgezogen – in der Architektur und Tanz neu verbunden werden.

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